Eine Filmkritik von Jannis Conrady
Der Missbrauch nach dem Missbrauch
„Sind so kleine Hände, winzge Finger dran. Darf man nie drauf schlagen, die zerbrechen dann“. Mit der Ballade Kinder aus dem Jahr 1976 beginnt der Dokumentarfilm „Die Kinder aus Korntal“. Die Sängerin Bettina Wegner erklärt, wie Eltern ihre Kinder erziehen sollten, und verdeutlicht ihre Zerbrechlichkeit. Parallel werden alte Fotos spielender Kindergruppen eingeblendet. Für Außenstehende eine fröhliche Szenerie, die, wenn wir das Lied erneut hören, in sich zusammenfallen wird.
In der Kleinstadt Korntal nahe Stuttgart sind seit den 1950er Jahren bis zu 300 unschuldige Kinder innerhalb der evangelischen Gemeinde missbraucht worden. Untergebracht im Kinderheim Hoffmannshaus schienen die Kinder im Schutz der Kirche gut behandelt zu werden. Pferdeställe, große Turnhallen, Schwimmbäder. Nach außen hin war das Heim ein wahres Paradies. Doch der Schein trügt, wie 2013 herauskam, als die ehemaligen Opfer ihr Schweigen brachen.
Einer der Leidtragenden (Detlev Zander) sagt dazu: „Im Kinderheim schauen mehr Pferde aus den Ställen, als Kinder auf dem Hof spielen“. In Wahrheit verbirgt sich hinter der Gemeinde ein Gefängnis. Ein Gefängnis, in dem die Bewohner Tag für Tag körperlicher wie auch psychischer Gewalt ausgesetzt waren. Die Abhängigkeit der Kinder aus Korntal nutzten Pfarrer schamlos aus. Vergewaltigung und Prügel statt Gutenachtgeschichten. Mittlerweile erwachsen kämpfen die Opfer nun für Wiedergutmachung. Doch der Aufarbeitungsprozess wirkt, trotz öffentlichen Drucks, halbherzig und wenig verständnisvoll. Was die Korntaler Gemeinde verpasst hat, soll der beim DOK Leipzig ausgezeichnete Dokumentarfilm nachholen.
Die Regisseurin Julia Charakter rückt die Stimmen sowie Gesichter der Zeugen in den Vordergrund. Die gesamte Inszenierung wurde an die Interviews angepasst, um so das Grauen zu untermalen. Matte, trostlose Grautöne dominieren das Bild. Wir sehen verlassene Gebäude, leere Straßen, kalte Wälder. Von Farben und Leben fehlt jede Spur. Korntal wirkt wie eine Geisterstadt. Die Stille wird anschließend von den Stimmen der Opfer übertönt. „Als Kind habe ich nicht viel gespielt. Stattdessen gab es Prügel, und anschließend wurden unsere Wunden versteckt“, erzählt Martina Proferl im Hintergrund. Währenddessen zeigt die Kamera weiterhin Bilder der Einsamkeit und zwingt damit regelrecht zum Zuhören.
In den detailarmen Landschaften gibt es für das Auge kaum etwas zu entdecken. Auf diese Weise regen die verbal expliziten, schonungslosen Berichte von Vergewaltigungen zwangsweise dazu an, sich die unmenschlichen Verbrechen bildlich vorzustellen. Hinzu kommen dann noch gezielt eingesetzte Animationen, die den Erinnerungen zusätzliches Leben einhauchen. Julia Charakter erzeugt im Verlauf der Dokumentation eine Bild-Ton-Schere. Auf Berichte über Misshandlungen folgt der sofortige Schnitt zu Botschaften an der Wand einer Kirche: „Kinder sind ein Geschenk Gottes“. Diese Technik lenkt den Fokus auf den Aufarbeitungsprozess.
Glücklicherweise blickt die Doku nicht nur aus einer Perspektive auf diesen schwierigen Fall. Die unterschiedlichen Aussagen werden geschickt gegeneinandergestellt, sodass wir zwei völlig gegensätzliche Sichtweisen auf denselben Sachverhalt erhalten. Während die Opfer über grausamen Missbrauch sprechen, lehnen die Bürger solche Vorwürfe ab. Es handele sich um fälschliche Beschuldigungen ehrlicher Menschen. Ihnen seien keine Anzeichen einer Vergewaltigung aufgefallen. Hier offenbart sich, dass Die Kinder aus Korntal ein Problem hat, an dem auch der Aufarbeitungsprozess gescheitert ist: fehlende Einsicht. Dadurch mangelt es der Aufarbeitung an Konsens, da die Leiter des damaligen Kinderheims entweder bereits verstorben sind oder jegliche Aussage verweigern. Lediglich ein Priester aus der heutigen Gemeinde bleibt, der keine Verbindung zu den Misshandlungen aufweist. Stattdessen spricht Pfarrer Hägele von Schuldzulassung und Vergebung. Für eine versöhnliche Aufarbeitung fehlt also die Basis. So bleiben die Opfer mit ihrer Bürde allein. Sie sprechen vom „Missbrauch nach dem Missbrauch“.
„Menschen mit Gewalterfahrung haben Stimmen, aber sie werden nicht gehört.“ An dieser Aussage eines der ehemaligen Kinder möchte Julia Charakter etwas ändern. Eine Aufarbeitung in der Form, wie es für die Opfer nötig wäre, ist nicht gegeben. Dennoch macht die Regisseurin mit viel Feingefühl auf die Missbräuche innerhalb der evangelischen Gemeinde aufmerksam. Die Kinder aus Korntal ist ein wichtiger Film. Ein Film, der Opfern eine Stimme gibt. Ein Film, der uns vor Ignoranz warnt und gleichzeitig Verantwortung für unsere Taten verlangt.
In Korntal, einem 9.000-Seelen-Ort in Baden-Württemberg, wurden seit den 1950er Jahren Hunderte Kinder in den Heimen der evangelikalen Brüdergemeinde missbraucht. Zwangsarbeit, körperliche Züchtigung und sexualisierte Gewalt waren an der Tagesordnung. Bis heute haben mehr als 150 ehemalige Heimkinder ihr Schweigen gebrochen, mehr als 80 Täter*innen wurden ermittelt. Weil diese sich gegenseitig deckten und die Umgebung wegsah, waren die Kinder dem Missbrauch jahrzehntelang schutzlos ausgeliefert. Als der Skandal 2013 an die Öffentlichkeit kommt, reagieren Gemeinde und Dorfgemeinschaft ablehnend: Es darf nicht sein, was sich nicht gehört. Erst als der Druck von außen wächst, initiiert die Gemeinde einen Aufarbeitungsprozess. Doch der ist umstritten: Opfer werden re-traumatisiert, ihre Aussagen angezweifelt. Bis heute kämpfen die Heimkinder aus Korntal um Aufklärung und Wiedergutmachung.